Russische Volksmedizin in der Familientradition

Familientradition

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Echtes Johanniskraut (Hypericum perforatum)

Unter Tradition versteht man allgemein die Weitergabe oder das Weitergegebene selbst, z. B. Erfahrungswissen, Gepflogenheiten, Konventionen, Bräuche oder Sitten. Diese Tradition geschieht immer innerhalb einer Gruppe oder zwischen Generationen und kann mündlich oder schriftlich über Erziehung, Vorbild oder spielerisches Nachahmen erfolgen. Weitergegeben werden jene Verhaltens- und Handlungsmuster, die im Unterschied zu Instinkten nicht angeboren sind. Geschieht diese Tradition innerhalb einer Familie, dann spricht man von einer Familientradition.

Wie kam ich zu meinem Wissen über die russische Volksmedizin, die ich auch erfolgreich in meiner ärztlichen Praxis bei meinen Patienten anwende?

Eigentlich war es eine logische Entwicklung, die ich aber bei meiner Geburt noch nicht wissen konnte und deren Ursache eine alte Familientradition ist. Bereits in meiner frühen Kindheit waren mir die Gerüche von Kräutern, Gewürzen, verschiedenster Mischungen, Salben und Tinkturen geläufig, denn ich war sehr oft bei meiner väterlichen Großmutter und sah ihr bei der Arbeit zu. Ebenfalls half ich ihr bei der Zubereitung von Präparaten, was mir sehr viel Spaß machte, denn für mich war das ein schönes Spiel. Allerdings wusste ich damals noch nicht, dass dieses Spiel bereits einen ernsten Hintergrund hatte. Erst später, als ich älter war, klärte mich Großmutter auf. Entsprechend unserer Familientradition übergab mir meine Großmutter das seit mehr als 500 Jahren in der Familie gesammelte Heilwissen zu traditionellen Heilmitteln und Heilmethoden der Volksmedizin. Das war der größte Schatz unserer Familie, den es zu bewahren galt. In mir fand Großmutter eine sehr interessierte Schülerin, die sie Schrittweise in alle Bereiche ihrer Arbeit integrierte. So war ich später auch bei der Behandlung ihrer Patienten dabei, erlernte die Diagnostik und die praktische Heilbehandlung. Diese Zeit mit Großmutter prägte mich für mein ganzes Leben. In der Folge studierte ich dann Medizin und begann als Ärztin zu arbeiten.

Wie verlief diese Ausbildung?

Wie bei allen meinen weiblichen Vorfahren, begann sie entsprechend unserer Familientradition mit dem 7. Lebensjahr und währte fast 12 Jahre. Die Großmütter nahmen ihre Enkelinnen mit in den Wald und erzählten, mit welcher Achtung man sich zum Wald verhalten muss. Dazu gehörte unbedingt, den Wald beim Betreten zu begrüßen. Sie erzählten, welche Pflanzen in welcher Jahreszeit zu sammeln sind, in welcher Mondphase, bei welchem Wetter und zu welcher Tageszeit, wo die Pflanzen wachsen, bei welchen Krankheiten sie helfen, wie es richtig ist sie in die Hände zu nehmen und welche Beschwörungen dabei zu sagen sind. Sprachen darüber, dass, wenn man aus dem Wald zum Behandeln geht, wir ihm unbedingt für seine Hilfe danken müssen. Beim Herausgehen muss man sich vom Wald verabschieden und darf auf dem Weg nicht mehr zurücksehen.

Im Haus setzte sich die praktische Ausbildung fort. Die Großmutter erzählte, wie es richtig ist, die Pflanzen zu trocknen, die Sude und die Aufgüsse vorzubereiten, wem die Behandlung helfen und bei wem es sehr kompliziert wird, führten vor, wie man mit dem Blutegel behandelt, wie die inneren Organe zurechtgestellt werden sowie wie, wann, wo und welche Beschwörungen zu lesen sind.
Natürlich war unsere Anwesenheit während der Aufnahme der Patienten obligatorisch. Jedoch erst mit dem 14. Lebensjahr wurde uns erlaubt, erstmals einfache Fälle selbst zu behandeln. Und darüber hinaus ist es schon das Familiengeheimnis, worüber ich nach der Familientradition nicht mehr erzählen kann.

Warum wurde gerade in meiner Familie Heilwissen über traditionelle Heilmittel und Heilmethoden gesammelt und das über Jahrhunderte?

Die Antwort gibt ein kurzer Blick in meine Familiengeschichte. Erste Überlieferungen zur Familie meiner väterlichen Vorfahren datieren aus dem 15. Jahrhundert im Zeitraum der Herrschaft von Zar Iwan III. (genannt der Große). In den folgenden Jahrhunderten standen die männlichen Familienangehörigen vorwiegend als Offiziere, Generale und Beamte im Dienste der jeweiligen Herrscher. Diese Familientradition endete erst mit dem Sturz der Monarchie in Russland.
Die weiblichen Familienangehörigen bildeten den Mittelpunkt und das Hinterland der Familie. Diese Stellung haben sie bis heute und sind verantwortlich für den Zusammenhalt, die Gesundheit und das Glück. Bereits aus den ältesten Überlieferungen ist daher auch ihr Wirken als „Heilerinnen“ bekannt. Das dafür nötige Wissen über die traditionellen Heilmittel und Heilmethoden wurde ihnen von Generation zu Generation übergeben. Für die Ausbildung ihrer Enkeltöchter sorgten die Großmütter. Nur, wenn diese frühzeitig verstorben waren, übernahmen die Mütter die Ausbildung ihrer Töchter. Dadurch blieb dieses Heilwissen über die Jahrhunderte erhalten und wurde mit der Zeit immer umfangreicher. Seine Anwendung war nicht nur auf die Familie beschränkt. Charakteristisch war das Verständnis, jedem Menschen ohne Ansehen der Person zu helfen.

Die Notwendigkeit für dieses Heilwissen bestand bereits aus der Hauptbeschäftigung der männlichen Familienangehörigen, den damit verbundenen Kriegsdiensten und den dabei nicht ausbleibenden Verwundungen, die in den Augen vieler Ärzte oftmals auch tödlich waren. Jedoch vollbrachten meine Großmütter nicht selten noch das „Wunder“. In jeder Generation wurden solche Wunder vollbracht, ob in der eigenen Familie oder bei fremden Menschen. Auch meine Großmutter war daran beteiligt.
Während des zweiten Weltkrieges lebte sie zeitweise im von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebiet. Da sie sehr gut deutsch sprach, wurde bei ihr ein Offizier einquartiert. Eines Tages brachte man diesen Offizier mit einer schweren Bauchverletzung, das Gedärm war ursprünglich aus dem Bauchraum ausgetreten, zurück in das Quartier. Eine derartige Verletzung gehörte über Jahrhunderte zu den gewöhnlich tödlich verlaufenden Verwundungen. Auch heute noch, in den Zeiten der modernen Medizin, sind schwere Komplikationen möglich. Entsprechend diesen Erfahrungswerten sagte der begleitende Arzt auch den Tod des Verwundeten in den nächsten Stunden voraus. Davon ließ sich meine Großmutter jedoch nicht abhalten und führte ihre Weise der Behandlung durch. Bereits nach wenigen Tagen war der Verwundete auf dem Weg der Genesung.

Auch bei meinem mütterlichen Großvater wirkte Großmutter so ein „Wunder“. Er kam mehr tot als lebendig aus dem Krieg zurück, da er dort drei Viertel seines Magens verloren hatte. Nach ihrer Behandlung arbeitete und lebte er noch sehr viele Jahre.

Die wohl bekannteste „Heilerin“ in der Familie war meine Ururgroßmutter. Zu ihr reisten die Menschen aus ganz Russland an, um sich behandeln zu lassen. Nach den Überlieferungen konnte sie sogar den Tod eines Menschen voraussehen. Meine Großmutter erzählte mir oft von ihr. Danach war sie eine außergewöhnlich kluge und gütige Frau, die viele „Wunder“ an ihren Patienten vollbrachte. Sie war auch die Lehrerin meiner Großmutter.

Es ließe sich noch viel über meine Familiengeschichte, die Familientradition und das Wirken meiner Großmütter als „Heilerinnen“ erzählen. Das über die Jahrhunderte angehäufte familiäre Heilwissen über die traditionelle Medizin ist ein sehr wertvoller Schatz, der für fast jede Krankheit eine Behandlungsmöglichkeit anbietet. Vieles davon ist bis heute ein Familiengeheimnis.

Traditionelles Heilwissen